Kapazität für Schönheit
- verenawessel
- Nov 25
- 3 min read
und warum sie mehr Platzt braucht in unserem Leben

Wir sprechen viel über Resilienz. Über das Navigieren durch Krisen. Über Regulation, Grenzen setzen und Selbstfürsorge. Doch ein Aspekt bleibt in unserem kollektiven Bewusstsein oft unterrepräsentiert: die Fähigkeit, Schönheit auch auszuhalten. Sie wahrnehmen zu können und sie da sein lassen zu können.
Es klingt fast banal. Aber oft ist genau das eine Herausforderung. Schönheit macht uns weich. Sie öffnet für Kontakt, für Berührbarkeit. Sie verlangt Präsenz. Und Präsenz bedeutet, spürbar zu werden, auch für uns selbst.
Warum Schönheit unser Nervensystem fordert
Ein Nervensystem, das gewohnt ist, Gefahr zu registrieren oder zu "funktionieren", wird vom Zarten, vom Lebendigen, vom Guten oft genauso irritiert wie vom Schwerevollem. Oder vielleicht ist es sogar mehr noch gewöhnt an das schwere und fühlt sich damit erstmal vermeintlich wohler. Schönheit fordert Weite. Sie fordert ein Loslassen des Panzers. In somatischer Arbeit sehe ich immer wieder: Das Gute kann ebenso überwältigen wie das Schwierige.
Wenn jemand in einer Shiatsu Sitzung plötzlich entspannt und der Atem tiefer wird, kommt manchmal zuerst nicht Frieden, sondern Unruhe. Die innere Frage: Darf sich das gut anfühlen? Bin ich hier sicher? Was passiert, wenn ich weich werde?
Auch in der Prozessbegleitung, im somatischen Arbeiten, im Breathwork und ja, auch in der Paar- und Sexualtherapie zeigt sich dieses Muster: Menschen sehnen sich nach Lebendigkeit, Kontakt und Weichheit, doch gleichzeitig haben sie kaum Kapazität dafür. Nicht weil sie unfähig wären, sondern weil ihr System es nicht gelernt hat.
Schönheit als Ressource, nicht als Kitsch
Schönheit ist kein romantischer Nebenschauplatz des Lebens, kein dekorativer Bonus. Kein Einrichtungsgegenstand. Sie ist auch eine regulatorische Kraft. Eine Erinnerung daran, dass wir mehr sind als unsere Stressmuster. Dass wir nicht nur überleben, sondern leben können.
Das kann die Farbe eines Himmels sein. Die Berührung eines geliebten Menschen. Der Atemzug, der plötzlich tief wird. Ein Lied, das uns berührt. Ein Satz, der etwas in uns trifft und uns gleichzeitig anhebt.
Schönheit wirkt, wenn wir sie nicht abwehren.
Wie Körperarbeit hier unterstützen kann
Wenn ich Menschen begleite – somatisch, in Shiatsu Behandlungen, bei Prozessbegleitung, im Breathwork oder in der Arbeit mit Paaren – geht es immer wieder um dieselbe Kernfrage:
Wie viel Lebendigkeit kann dein Körper gerade halten?
Und diese Kapazität ist ausweitbar.
Über Kontakt. Über Berührung. Über Regulation. Über Bewusstheit. Über Atem. Über Ausdruck. Über das langsame Wiederöffnen von Bereichen, die lange kompensiert haben, (aus Gründen) in Anspannung waren. Ein angespannter Körper hat einen angespannten Blick auf die Welt.
In Shiatsu zeigt sich das in Mikroverschiebungen im Gewebe, im Tonus, im Atem. Im Breathwork in der Fähigkeit, mit Intensität und Weite gleichzeitig präsent zu bleiben. Dazubleiben in und mit den Wellen und in Selbstwirksamkeit zu sein. In der Paar- und Sexualtherapie im Mut, Nähe nicht nur herzustellen, sondern auch zuzulassen.
Gemeinsam ist all diesen Zugängen: Weichheit ist ein Zustand, der gelernt werden kann und Schönheit ein Stimulus, der genau das fördert.
Schönheit und der Mut zur Verletzlichkeit
Schönheit erinnert uns an unsere Fähigkeit, berührt zu werden .Sie macht sichtbar, dass wir mehr wollen als Funktion und Tempo: wir wollen Resonanz. Das macht sie so risikobehaftet und aber auch so unglaublich tragend und wertvoll.
Deshalb braucht es Substanz, Boden, Regulation. Nicht, um uns vor dem Leben zu schützen, sondern um es überhaupt aufnehmen zu können.
Eine Frage an dich
Wie steht es um deine Fähigkeit, dich der Schönheit auszusetzen? Nicht nur der großen, spektakulären, sondern der stillen, alltäglichen, unscheinbaren?
Und lässt du sie lange genug an dich heran, dass sie etwas in dir verschieben darf?





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