Zen: Eine Praxis, die wach macht
- verenawessel
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Zen meint im Kern ein radikales Wachsein. Kein funktionales Wachsein, das To-do-Listen abarbeitet, sondern ein inneres Wachwerden, das uns klarer spüren lässt, was in uns geschieht, während es geschieht. Zen richtet den Blick nicht nach außen, sondern nach innen, dorthin, wo Wahrnehmung entsteht. Dieses Wachsein ist schlicht, aber nicht oberflächlich. Es verlangt eine Präsenz, die nicht ausweicht, nicht beschönigt und nicht voreilig bewertet. Genau hier beginnt Zen: beim Mut, die eigene Erfahrung unmittelbar zu sehen und nicht in vertraute Innenfilme zu wechseln.
Wahrhaftig sein, ohne zu dramatisieren
Wahrhaftigkeit in der Zen-Praxis bedeutet nicht Härte, sondern Klarheit. Eine Klarheit, die uns erlaubt, ehrlich mit dem zu sein, was auftaucht, ohne es größer oder kleiner zu machen, als es ist. Zazen, das stille Sitzen, erschließt diese Wahrhaftigkeit auf unmittelbare Weise: Der Atem kommt und geht. Gedanken steigen auf und fallen wieder ab. Körperempfindungen melden sich, ohne dass wir sie in Geschichten einbauen müssen. Wahrhaftigkeit zeigt sich dort, wo wir nicht mehr automatisch in Deutung, Rechtfertigung oder Flucht gehen. Sie zeigt sich in der Fähigkeit, die eigene Innenwelt so anzunehmen, wie sie in diesem Moment ist.
Wesentlich werden
Wesentlichkeit entsteht, wenn das innere Rauschen leiser wird und die Aufmerksamkeit sich bündelt. Zen reduziert auf das, was trägt: Atem, Körper, Moment. Die äußere Form mag streng wirken, aber sie entlastet, weil sie uns von unserer eigenen Zerfaserung befreit. Die Struktur des Sitzens, die Haltung des Körpers, der klare Fokus: all das dient nur einem Zweck, die Ablenkungen zu minimieren, damit wir die Tiefe der unmittelbaren Erfahrung überhaupt erreichen können. Wesentlichkeit zeigt sich, wenn wir nicht jedem inneren Impuls folgen müssen, sondern einen stillen Boden unter unseren Füßen finden.
Zen als gelebte Praxis
Zazen ist kein Versuch, Gedanken zu stoppen oder den Geist „leer“ zu machen. Es ist ein Sich-Hinsetzen in das, was da ist. Ein Üben, das sich wiederholt und gerade in dieser Wiederholung transformiert. Im Sitzen werden die vertrauten Fluchtwege sichtbar: das Abschweifen, das Analysieren, das Optimieren, das Kompensieren. Indem wir sie bemerken, ohne ihnen nachzugehen, entsteht eine neue Qualität von innerer Beweglichkeit. Diese Praxis setzt sich in den Alltag fort: im Gehen, im Atmen, im Lauschen, im Kontakt. Zen trainiert nicht Perfektion. Zen trainiert Präsenz.
Die wachsende Kapazität für Schönheit
Je stiller es in uns wird, desto deutlicher zeigt sich die Welt. Zen verfeinert unsere Wahrnehmung, weil es unsere inneren Filter durchlässiger macht. Schönheit, die vorher übersehen wurde, tritt hervor: die zarte Textur eines Atemzugs, ein Lichtreflex im Raum, eine unverwechselbare Geste, die Wärme einer Berührung, die Weite eines Moments ohne Ablenkung. Schönheit wird nicht größer; wir werden empfänglicher und durchlässiger dafür. Zen erweitert die Kapazität für Schönheit und somit die Kapazität, Schönheit überhaupt aushalten und aufnehmen zu können. Denn Schönheit fordert uns, oft mehr als Schmerz: Sie macht uns weich, offen, berührbar. Ein Nervensystem, das im Zazen gelernt hat, Stille und Intensität und der Modder, der hoch kommt, zu halten, kann genau diese Weichheit besser zulassen.
Der Effekt auf unser Leben und unsere Beziehungen
Zen macht uns nicht perfekt. Zen macht uns präsenter. Es schenkt uns einen inneren Raum, der bewusst bleibt, auch wenn Emotionen steigen und sinken, auch wenn Kontakt näher rückt oder uns herausfordert. Wachheit lässt uns klarer sehen, Wahrhaftigkeit verhindert Selbsttäuschung, und Wesentlichkeit reduziert das Drama. In dieser Kombination entsteht die Fähigkeit, nicht reflexhaft zu reagieren, sondern in Beziehung zu treten: mit uns selbst, mit der Welt, mit anderen Menschen. Und genau daraus wächst die tiefe, natürliche Fähigkeit, Schönheit nicht nur zu erkennen, sondern sie auch zu halten.
Empfehlungen um Zen auszuprobieren: In Hamburg in der Kirche der Stille immer Dienstagabends.
Für längere Aufenthalte: Buchenberg Kloster im Allgäu und Stiftung Felsentor in der Schweiz.





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